Sie wächst einem schnell ans Herz, diese Familie. Obwohl – oder weil? – sie allesamt völlig durchgeknallt sind, sich ständig gegenseitig auf die Palme bringen und somit alles andere als die Traumfamilie sind. Obwohl die vier Kinder echte Teufel sind, die Mutter es faustdick hinter den Ohren hat und der Vater ständig droht, die Koffer zu packen und abzuhauen. Am Ende gibt es minutenlangen Applaus für das russische Teatr Licedei, das mit »Semianyki« im Tipi am Kanzleramt einen Wirbel aus makabren, witzigen und schwarzhumorigen Szenen präsentiert – und das alles ohne Worte.
Auf deutsch heißt Semianyki soviel wie »bei Familiens«, und eben dies zeigt die sechsköpfige Clownkunst-Truppe, deren Akteure in der Realität alle im Alter zwischen 32 und 36 Jahren alt sind: den ganz normalen Alltag in einer Großfamilie mit vier erfindungsreichen Kids, einer warmherzigen, in höchstem Maße schwangeren Mutter und einem Vater mit roter Alkoholiker-Nase, der immer mal wieder beleidigt seinen Hut nimmt und zu verschwinden droht. Kein Wunder, ist der Arme doch das bevorzugte Ziel der kindlichen Terror-Akte: Ob sie ihn im Schlaf mit Wäscheklammern spicken und mit Paketband zu ersticken drohen oder mit einem Megaphon sein Schnarchen zum lautstarken Orkan machen, irgendetwas fällt den Gören immer ein. Doch am Ende haben sich alle lieb, man küsst sich und startet eine Kissenschlacht, bei dem das Publikum gerne miteinbezogen wird, die Jüngsten wie die Ältesten.
Bei allem kommt die mit schwarzen Hornbrillen und abstehender Haarpracht ausgestattete Truppe aus St. Petersburg, alles Absolventen des im osteuropäischen Raum sehr bekannten Licedei Liceums, ohne ein einziges Wort aus. Pantomimisch, unterlegt nur durch Töne und Musik – von alten Walzern, knisternd wie von Uromas Grammophon, über Beethoven bis zum Ohrwurm »Just a gigolo« – treiben die sechs Darsteller den Familienalltag auf die Spitze und finden in jedem Moment die Balance zwischen rabenschwarzem Humor, Slapstick, Poesie und surrealen Traumsequenzen, in denen kopflose Puppen das Klavier aufstemmen oder Mutter und Kinder sich in Zombies mit rot glühenden Augen verwandeln.
Doch auch die Streiche, die sich der älteste Sohn, seine beiden Schwestern und das Nesthäkchen der Familie gegenseitig spielen, sind nicht zur Nachahmung zu Hause zu empfehlen: Da wird munter am Fuß der Kleinsten herumgesägt, da wird gehauen und gestochen, mit Äxten und Pistolen herumgefuchtelt und überhaupt nur Blödsinn veranstaltet. Ob sich das Baby und seine ältere Schwester gegenseitig die spitzenbesetzten Hängerchen vom Leibe reißen oder das kleine Schaukelpferd aus Holz mit seinem lauten Wiehern einen Streich vereitelt, ob der Sohn in seinen zu kurzen Hosen mit offenem Hosenschlitz auf dem Mofa-Roller durch die Gegend knattert oder die umfangreiche Mutter mit ausdrucksstarken Gesten und wiegendem Po wieder einmal versucht, ihren Gatten zum Bleiben zu überreden – die pantomimischen Sketche sind absurd und schräg wie in alten Stummfilmen mit Buster Keaton oder Charlie Chaplin.
Und doch beruhen die Szenen auf einem wahren Kern. Eifersucht unter den Geschwistern, die geheime Freude der Eltern, wenn sie sich zum Ausgehen fertigmachen, die Überdrehtheit der nächtens im Hause herumtobenden Kinder, aber auch die Vertrautheit, wenn sie alle vier zu ihrer großherzigen Mutter ins Bett dürfen – all das ist Psychologie des Alltags, mal derb zu wunderbaren Pointen verquickt, mal auch voll feinsinniger Melancholie oder mit akrobatischen Zügen. Zirkusreif, wie der Vater mit einem Besenstil in den Ärmeln unter ärgsten Verrenkungen seinen Wodka einschenkt und trinkt; oder wenn sich nach der großen Versöhnung ein Kind nach dem anderen auf ihn wirft, bis der Schaukelstuhl zu kollabieren droht. Für Kleinkinder ist das Spektakel vielleicht ein wenig zu schrill und brutal, doch alle Kinder ab sechs Jahren dürften ihren Spaß haben. Und spätestens, wenn am Ende das ganze Zelt in einer wirbelnden Flut aus Kassenrollen-Luftschlangen untergeht, hat man seine Meinung über Clowns geändert – zumindest über russische.
Bis 30. Januar, Di-Sa 20 Uhr, So 19 Uhr; Tipi am Kanzleramt, Große Querallee, Mitte, Karten unter Tel.: 39 06 650