Hereinspaziert zur „Tiger Lillies Freakshow“. Die drei Londoner Künstler erzählen im Berliner Varieté Wintergarten von der wundersamen Welt der Außenseiter. Wer sich darauf einlässt, wird mit Absonderlichkeiten, Obskuritäten und Absurditäten von abgründiger Schönheit verzaubert.
Die Stimme knarzt so verheißungsvoll wie bedrohlich. „Welcome to the carnival of circus freaks!“ Die Einladung ist eindeutig. „Ladies and gentlemen take your seats!“ Wer sich einlässt auf diese obskure Wunderbude, die sich jetzt im Varieté Wintergarten an der Potsdamer Straße eingenistet hat, wird mit Absonderlichkeiten, Obskuritäten und Absurditäten von abgründiger Schönheit verzaubert, taucht tief ein in eine provokant-poetische, morbid-romantische Einzigartigkeit, die Vergnügungslust und Nervenkitzel der Sideshows und Rummelbuden vergangener Jahrmarkts-Jahrhunderte als bewegende, skurrile, irrwitzige Cabaret-Revue inszeniert. Hereinspaziert in eine Dreigroschenoper-Halbwelt, die aus der Zeit gefallen scheint. Hereinspaziert zur „Tiger Lillies Freakshow“.
Seit mehr als 20 Jahren besingen die drei Londoner Tiger Lillies Zuhälter und Huren, Kleinkriminelle und Drogensüchtige, Proleten und Perverse, Aussteiger und Verlierer. Sie haben es mit ihrer Struwwelpeter-Version „Shockheaded Peter“ vor zehn Jahren zu einiger Berühmtheit gebracht. Sie haben mit bewusster, ironiegesättigter Provokation und Liedern über Brandstifter, Sodomisten und Selbstmörder verstört und begeistert, sich dabei Feinde gemacht – und immer mehr Freunde.
Nun steht Sänger Martyn Jacques mit grell geschminktem Clownsgesicht und seinem kleinen Akkordeon im düster wabernden Bühnennebel und erzählt von der wundersamen Welt der Außenseiter, der Freaks, die den Anschluss an die Gesellschaft verloren haben und sich auf einer Kirmes zur Schau stellen, die es heute so längst nicht mehr gibt.
Während die schiere Lust an den einst marktschreierisch angepriesenen Attraktionen der alten Schaubuden und Panoptiken heute längst vom Privatfernsehen mit seinen voyeuristischen Prekariats-Zurschaustellungen befriedigt wird, entführen die Tiger Lillies in eine sehnsuchtsvolle Gegenwelt, in der sich siamesische Zwillinge (Ele und Julia Janke) rekeln und showerprobte Liliputaner-Artisten (Irene und Rolando Hofer) kleine beleuchtete Zirkuswagen über die Bühne schieben. In der sich die mysteriöse Schlangenfrau Alba windet. In der uns die Tiger Lillies den riesigen Marionetten-Mann mit den drei Paar Armen und die traurige Frau mit den längsten Haaren der Welt vorführen. Und in der sie fragen, was denn nun abnorm, und was normal ist in einer Welt, die kaum noch Geheimnisse oder Tabus zu kennen scheint – mit einer melancholischen Mischung aus Moritaten-Pop und Tingeltangel, Kabarett-Songs und Underground-Varieté.
Da schwingt auch ein wenig das Gefühl mit, etwas Verwegenem, Verwunschenem, Verbotenem beizuwohnen. Die Atmosphäre ist kribbelnd unheimlich und auf faszinierende Weise betörend. Kontrabassist Adam Stout, der immer wieder auch den Urahn der elektronischen Musik, das Theremin, spukig aufheulen lässt, und der Schlagzeuger Adrian Huges, den David Byrne einmal als „James Joyce on drums“ apostrophierte, sind Martin Jacques kongeniale Partner in diesem magisch-musikalischen Theater der Träume und Albträume. Musikalisch klingt Weill ebenso mit wie Music Hall und Zirkus-Remmidemmi. Polka und Blues untermalen die aufbrausenden Mörder-Balladen und schmerzhaften Outcast-Lieder zum schaurig-schönen, wehmütigen Klang des Akkordeons. Und Jacques wechselt bei seinen seelentrunkenen Gesängen vom kunstvollen Kastratensopran in rau-dräuende, an Tom Waits gemahnende Tiefen und zurück.
Die Tiger Lillies sind eine höchst ökonomische Band. Sie verstehen es gekonnt, ihre Lieder zu immer neuen Song-Zyklen zu arrangieren. Auch in dieser Show finden sich alte Bekannte im neuen Kontext. Das Lied von der „Bleeding Lady“ wird von der weinend singenden Säge begleitet, „Three Legged Jake“ wird von einer fantasievollen Hutjonglage (Lorenzo Mastropieto) begleitet, bei „Miracle Cure“ wird ein Schwert geschmiedet, das die unzertrennlichen siamesischen Zwillinge trennt, bei „Rosa with three Hearts“ wird eine voluminöse Lebedame hereingefahren. Und zum grandiosen Höhepunkt kann man von den nun getrennten Zwillingen zu „Forever Together“ eine grandiose, waghalsig ausgetüftelte und immer wieder von aufbrausendem Jubel begleitete Trapeznummer erleben, die wahrlich Staunen macht.
Die „Tiger Lillies Freakshow“, inszeniert vom Varieté-erprobten Regisseur Sebastiano Toma und nun für vier Wochen im Wintergarten heimisch, ist eine anrührende Außergewöhnlichkeit im an Höhepunkten reichen Berliner Kulturleben. Kein Konzert, keine Revue, kein Varieté – und doch von allem etwas. Für die Zugaben wird mit „Crack of Doom“ und dem Lillies-Klassiker „Start A Fire“ noch einmal ordentlich der Untergang der Menschheit beschworen, bevor Martyn Jacques mit einem ironischen Grinsen und seinen beiden Mitstreitern im Gefolge die Bühne mitten durch den Zuschauerraum verlässt. Applaus!
Quelle: Berliner Morgenpost